Wie jeden Tag musizierten und jubilierten die himmlischen Heerscharen im Thronsaal des Allmächtigen. Da gebot der Erzengel Michael ihnen mit der Hand, zu verstummen. Als der letzte Ton verklungen war, verneigte er sich in Richtung Gott.
Gott erhob sich, breitete die Hände aus, lächelte die Engel seines Hofstaates an und sprach: Meine Lieben! Ihr habt es längst mitbekommen, die Menschen machen mir schwere Sorgen. Auf die Propheten hören sie kaum noch; alles läuft aus dem Ruder. Es scheint mir nur mehr ein Weg zu bleiben, um wieder Ordnung zu schaffen.“
Alle Engel blickten ihren Herrn erwartungsvoll an. Gott hielt einen Moment inne und faltete die Hände. Dann fuhr er fort: „Also habe ich mich entschlossen, meinen eigenen Sohn zur Erde zu schicken. Er wird ein Mensch unter Menschen werden. Wie alle anderen Menschen, soll er im Leib einer jungen Frau reifen. Zur Welt bringen möge ihn Maria aus Nazareth.“ Ein freudiges Raunen war im Thronsaal zu vernehmen und manche Engel spielten aufgeregt eine Art Tusch auf ihren Lauten, Flöten, Posaunen und Glockenspielen. Gott nickte väterlich. „Ja“, sagte er und fasste sich ans Kinn, „das ist ein bedeutender Schritt. Doch ich habe dem Menschen Freiheit geschenkt. Das heißt, Maria muss erst damit einverstanden sein. Einer von euch wird ihr die Botschaft bringen und sie fragen, ob sie dazu bereit ist.“ Nun war es mucksmäuschenstill. Wer würde diese ehrenvolle Aufgabe übertragen bekommen? Gott zeigte auf den Erzengel Gabriel. Dieser verbeugte sich tief, Gott segnete ihn und er schwebte davon. Die Orgel brauste los und alle Engel stimmten wieder in den himmlischen Lobgesang ein.
Seither malte sich der kleine Engel Angelino jeden Abend vor dem Einschlafen einen ebenso großartigen Auftrag aus, wie ihn Gabriel auszuführen hatte. Aber bis Angelino als kleiner Schutzengel überhaupt einmal zur Erde hinab dürfte, würde es wohl noch ganz schön lange dauern. Sein Chef, der Erzengel Michael, pflegte zu sagen, Angelino werde wohl in alle Ewigkeit in der dritten Reihe Halleluja singen; weiter könne er es kaum bringen. Und das nur, weil sich der Neuling im Himmel dann und wann tollpatschig anstellte: Mal machte der kleine Engel sein blütenweißes Gewand schmutzig, wenn er auf Gewitterwolken ritt; ein anderes Mal riss er sich an der Himmelspforte die Flügel ein, weil er so scharf um die Ecke bog. Seither verlor er immer wieder Federn. Das Morgenlob verpasste Angelino dann und wann, weil er seine Träume im Bettchen nicht loslassen mochte. Und wenn ihn in der Himmelsschule der Erzengel Rafael abfragte, dann wusste er nicht, wie die Hierarchie der Cherubim und Seraphim aufgebaut ist.
Eines Abends, als Angelino schon eine Weile im Bett lag, fiel ihm siedend heiß ein, dass er am nächsten Tag im Unterricht auf der Harfe vorzuspielen hatte. Natürlich hatte er vergessen, zu üben. Er stand noch einmal auf und schlich sich in den Thronsaal, der um diese Zeit leer war; nur ein paar Leuchter verströmten ein mildes Licht. Der kleine Engel schnappte sich sein Instrument, da wurde es auf einmal strahlend hell. Erschrocken verbarg er sich hinter einem Palmwedel. War Gott selbst noch einmal hereingekommen? Nein; Angelino beobachtete, wie Gabriel mit wehendem Gewand hereinrauschte. Der Erzengel sah sich in alle Richtungen um, bemerkte den kleinen Engel nicht und stieg die Stufen zum Thron empor. Angelino stockte der Atem: Gabriel nahm auf dem Thron des Allmächtigen Platz, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und rief grinsend: „Ha! Eines Tages werde ich selbst hier sitzen!“ Angelino ließ vor Schreck die Harfe zu Boden fallen. Das Instrument gab ein hässliches Geräusch von sich: „Plung!“ „Wer da!“ Gabriel sprang auf, sauste zu dem kleinen Engel und zog ihn am Ohr hinter dem Palmwedel hervor. „Was machst du kleiner Wicht hier?“, fragte er barsch. Angelino zitterte vor Angst; er konnte zuerst gar nichts sagen, die Zunge klebte ihm am Gaumen. Gabriel hob drohend den Finger. „Wenn du auf die Idee kommen solltest, jemandem auch nur ein Wörtchen zu verraten, dann …!“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber Angelino konnte sich denken, was er damit sagen wollte! „Ich petze doch nicht“, flüsterte er bange. Von Albträumen geplagt, warf sich der kleine Engel in seinem Bettchen hin und her. Beim Morgenlob am nächsten Tag dirigierte Michael Chor und Orchester. Nachdem die Halleluja-Lieder verklungen waren, setzte er eine ernste Miene auf. „Einer von euch hat sich versündigt. Und das schwer!“ Michael ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. „Einer von euch hat es gewagt, sich auf den Thron des Allmächtigen zu setzen!“ Alle sahen nun zu Gott hin, der nachdenklich den Kopf wiegte. Nur Angelino wagte nicht aufzublicken und versuchte, sich ganz klein zu machen. „Wer es auch immer war, er trete hervor und gestehe!“, rief Michael. Niemand rührte sich. „Also gut“, sagte der Erzengel, „das macht alles nur noch schlimmer.“ Er griff in sein Gewand und holte eine Feder hervor. „Dieses Beweisstück hat der Übeltäter auf dem Thron unseres Herrn zurückgelassen. Und wer verliert ständig Federn? Na? Wer?“ Alle drehten sich nach Angelino um. Der kleine Engel war blass geworden. Zornige Blicke trafen ihn. Die anderen schubsten und stießen ihn nach vorn, bis er in der Mitte des Thronsaales stand. „Was hast du zu sagen?“ Michael musterte ihn vorwurfsvoll, die Arme vor der Brust verschränkt. Angelino schwieg und blickte verlegen zu Boden. „Warst du es? Ja oder nein?“ Der kleine Engel brachte kein Wort heraus. Er versuchte aus dem Augenwinkel, Gabriel zu entdecken. Der gähnte, als wäre ihm sehr, sehr langweilig. „Zur Strafe wirst du verstoßen in das Reich der Finsternis. Verlasse das Licht des Himmels! Sofort!“ Michael wies mit der Rechten zur Pforte. Angelino trottete langsam zum Ausgang. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Rafael kam hereingerauscht. Er schwebte direkt zu Gott empor und flüsterte ihm eine Botschaft ins Ohr. Gott strahlte auf einmal und verkündete: „Es ist soweit! Maria liegt in den Wehen! Mein Sohn wird in diesen Augenblicken geboren!“ Ein helles und fröhliches Jauchzen hallte durch den Thronsaal. Gott breitete die Arme weit aus und sprach: „Einer wird nun den Menschen die schönste aller guten Nachrichten überbringen. Und zwar-“ Der kleine Engel war fast schon an der Tür angekommen, da vernahm er seinen Namen – „Angelino!“ aus dem Munde Gottes. Wie angewurzelt blieb er stehen. Langsam wandte er sich um, dem Allmächtigen zu, überzeugt, er hätte sich verhört. Gott sprach: „Meint ihr den wirklich, ich wüsste nicht, wer sich angemaßt hat, auf meinem Platz zu sitzen? Ich weiß alles: Gabriel war es. Er ist der Versuchung erlegen und wollte nach der Macht greifen. Er ist nicht der Erste, der so eitel ist. Das kann ich verzeihen. Aber zuzulassen, dass der Kleine hier zu Unrecht beschuldigt wird, das ist schändlich!“ Gabriel hatte bestürzt die Augen aufgerissen. Michael legte den Kopf schief. „Gabriel bekommt zu Strafe Hausarrest! Und nun zu dir, Angelino. Du machst eine Menge Fehler. Aber du hast geschwiegen, um Gabriels Schuld auf dich zu nehmen. Du bist unvollkommen, das ist wahr. Aber du meinst es gut. Und deswegen liebe ich dich, wie ich auch die Menschen liebe. Na komm her, Kleiner, lass dich segnen, und dann ab mit dir! Auf Erden ist es schon wieder Abend. Mach dich nun auf, zu den Hirten!“ Angelino strahlte heller als alle Leuchter zusammen. Michael war zu ihm getreten, gab ihm ein paar Tipps und schließlich einen aufmunternden Schubs.
Die Hirten lagerten mit ihren Herden auf den Weidegebieten vor der Stadt. Es war kalt und ungemütlich in dieser Nacht. Sie waren um ein kleines Lagerfeuer versammelt, lauschten den Märchen, die einer erzählen konnte, oder sangen ein Lied zum Klang der Flöte. Als Angelino erschien, erschraken sie sehr und fielen voll Furcht auf die Knie, als bedrohte sie ein Unwetter mit Blitz und Donner.
„Keine Angst!“, rief Angelino ihnen schon von Weitem zu, „nun habt doch keine Angst! Ich habe euch etwas Wunderbares mitzuteilen, etwas, das euch freuen wird! Euch ist heute der Messias geboren, der Retter, der Heiland, der alles gut machen wird!“
Die Hirten nahmen die Hände herunter, die sie zum Schutz vor Gesicht gehalten hatten, und sahen Angelino misstrauisch an. „Glaubt mir doch! Ihr werdet ein kleines Kind finden, ein Neugeborenes. Es ist in Windeln gewickelt und liegt in einer Krippe.“ Angelino lachte den Hirten aufmunternd zu. Da erlebte er selbst eine Überraschung, denn hinter ihm versammelte sich auf einmal ein ganzes himmlisches Heer, angeführt von Michael, und sang vielstimmig: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, bei den Menschen, die er liebt!“ Danach kehrten die Engel in den Himmel zurück und die Hirten zogen nach Bethlehem.
Angelino fiel zwar auch später beim Harfe-Vorspielen immer wieder durch. Doch dafür hatte er die wichtigste Botschaft der Welt überbringen dürfen. Nur der gekränkte Gabriel wusste zu verhindern, dass man den Namen des kleinen Engels in die Heilige Schrift aufnahm.
Georg Schwikart
Unvollkommen, menschlich und ehrlich – so wie der kleine Angelino dürfen wir dem Kind in der Krippe begegnen. Es nimmt uns so an wie wir sind und es beschenkt uns mit einem Stück seiner göttlichen Vollkommenheit.
Warum? Aus purer Liebe zu uns!
Gott sagt uns in der Geburt seines Sohnes: Ich liebe dich um deiner selbst willen! Du musst dir meine Liebe nicht verdienen. Ich beschenke dich einfach, weil ich es will!
Was für ein großartiges Geschenk!
So wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten Seelsorgeteams und aller Menschen, die an diesem Adventkalender mitgewirkt haben, ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest!
Gregor Platte, Pfr.
Autoren: Georg Schwikart / Elisabeth Becker, Pfr. Gregor Platte Bild: Friedbert Simon in Pfarrbriefservice.de Text als PDF verfügbar